Die Geisteswissenschaften umfassen eine große Gruppe von einzelnen Disziplinen, die sich mit allen Aspekten der menschlichen Gesellschaft, Kultur, Sprache und Geschichte sowie des Denkens und der Kommunikation befassen. Die digitalen Geisteswissenschaften teilen diese Interessengebiete und versuchen die Prozesse der Gewinnung und Vermittelung neuen Wissens unter den Bedingungen einer digitalen Arbeits- und Medienwelt weiter zu entwickeln. Dazu forschen und lehren sie z.B. im Bereich der Digitalisierung des Wissens und des kulturellen Erbes, der Anwendung und Weiterentwicklung von Werkzeugen, der Operationalisierung und Beantwortung von Forschungsfragen und der Reflexion über die methodischen und theoretischen Grundlagen der Geisteswissenschaften in einer digitalen Welt. Der Begriff der digitalen Geisteswissenschaften ist eine Übertragung aus den international schon etablierten Bezeichnungen Digital Humanities und eHumanities (enhanced Humanities). Diese decken aber auch spezialisierte Kennzeichnungen aus der deutschen Sprache wie (z.B. historische) Fachinformatik, Computerlinguistik oder Computerphilologie ab. Die Digital Humanities sind deshalb einerseits ein sehr weites Feld. In ihrer konkreten Umsetzung als Fach an einer Hochschule können sie sich andererseits aber auch auf bestimmte Teilbereiche (z.B. die Sprache oder die Geschichte) ausrichten und spezialisieren.
Innerhalb der digitalen Geisteswissenschaften bildet die Computerlinguistik einen Bereich, der durch mehrere schon lange bestehende Studiengänge in der Etablierung als eigenständiges wissenschaftliches Fach relativ weit fortgeschritten ist, weshalb dieser Bereich in den Digital Humanities auch eine Sonderstellung einnimmt. Andere Bereiche der digitalen Geisteswissenschaften sind bisher weniger klar profiliert, ihnen wird in der vorliegenden Broschüre bewusst stärkere Aufmerksamkeit geschenkt. Die Digital Humanities können in ihrem Verhältnis zu den schon länger bestehenden Fächern auf unterschiedliche Weise beschrieben werden. Manche sehen in ihnen eine Hilfswissenschaft zu den geisteswissenschaftlichen Fächern, deren Fragestellungen sie aufgreifen. Manche betrachten sie als eine angewandte Informatik, die für einen speziellen Gegenstandsbereich Informatik-Lösungen entwickeln. Wieder andere sehen in ihr eine allumfassende Geisteswissenschaft auf der Ebene der Methoden und digitalen Praktiken. Spätestens damit hätte sie ihren eigenen Gegenstand und ihre eigenen Methoden und würde so zu einem eigenständigen Fach. Auf jeden Fall wirken die digitalen Geisteswissenschaften aber auch wieder zurück in die einzelnen Fächer, in denen digitale Methoden und Praktiken sich immer mehr durchsetzen und die dadurch verändert werden.
In der Regel wird man den Bereich der digitalen Geisteswissenschaften in Verbindung mit einer „traditionellen“ Geisteswissenschaft studieren und dadurch auch in einem oder mehreren Themenfeldern z.B. der Sprachwissenschaften, der Literaturwissenschaften, der Kulturwissenschaften, der Geschichte oder der Philosophie einen inhaltlichen Schwerpunkt bilden. Meistens wird dazu ein Digital Humanities-Studiengang als Haupt- oder als Nebenfach mit einem weiteren Fach kombiniert. Damit kann zunächst ein BA erreicht werden, an den ein MA angeschlossen werden kann, der entweder wieder die Kombination zweier Fächer vorsieht, oder der dann ein reiner Digital Humanities-MA (bzw. MSc) ist. Der Erwerb von Kompetenzen in diesem Bereich kann aber auch auf den Studiengang des BA beschränkt werden, an den sich dann eine fachliche Spezialisierung ohne Vertiefung der digitalen Komponente anschließen lässt – wie umgekehrt auf ein „traditionelles“ geisteswissenschaftliches Studium ein besonderer Digital Humanities MA folgen kann. Eine gezielte Schnittmenge kann auch gebildet werden, wenn ein geisteswissenschaftliches Fach mit dem regulären Studienfach Informatik – als reine oder als angewandte Informatik – kombiniert wird. Unterhalb der Ebene regulärer Abschlüsse wie BA und MA können an manchen Hochschulen zu den traditionellen geisteswissenschaftlichen Fächern Schwerpunkte gebildet, Module gewählt oder Zertifikate erworben werden, die eine Spezialisierung und den Kompetenzaufbau im Bereich digitaler Wissenschaften ermöglichen. Zu beachten ist, dass die verschiedenen Studiengänge in den digitalen Geisteswissenschaften eine Auswahl verschiedener „Geschmacksrichtungen“ erlauben, indem sie manchen Fächern und Themen enger verbunden sind als anderen. So hat ein BA-Nebenfach „Texttechnologie“ z.B. eine vor allem sprachwissenschaftliche Ausrichtung, ein MA „Linguistic and Literary Computing“ einen besonderen sprach- und literaturwissenschaftlichen Fokus oder ein Magister-Nebenfach „Kulturinformatik“ eine stärkere Verbindung zu den Kulturwissenschaften.
Die Unterrichtsinhalte hängen vor allem von der fachlichen Ausrichtung eines Studienganges ab. Alle Studiengänge werden aber in der einen oder anderen Form die folgenden vier Bereiche abdecken:
Erstens wird der spezifische Gegenstand einer ausgewählten Geisteswissenschaft oder eines größeren Untersuchungsbereiches vermittelt. Dabei wird z.B. der Umgang mit und die Analyse und Interpretation von historischen Quellen, literarischen Texten oder anderen kulturellen Artefakten eingeübt. Dies führt nicht zuletzt zu einem fundierten Überblick über die Fragestellungen, methodischen Ansätze, Arbeitsweisen, verfügbaren Ressourcen und gegenwärtigen Probleme des jeweiligen Forschungsfeldes.
Zweitens ist es das Ziel einer Ausbildung in den Digital Humanities, Problemstellungen und die dazu gehörigen Daten gemäß den bestehenden Ansätzen und Standards – aber darüber hinaus auch nach den besonderen Erfordernissen des Einzelfalles – so modellieren zu können, dass sie einer digitalen und maschinellen Bearbeitung zugänglich und für eine dauerhafte Bereitstellung und Langzeitarchivierung vorbereitet werden. Beispielsweise können hier Dokumente (Handschriften, Drucke etc.) in einen digitalen Text überführt und dann auf verschiedene Arten ausgewertet oder verarbeitet werden. Modellierung betrifft aber darüber hinaus auch anndere Gegenstände der Forschung sowohl konkreter als auch abstrakter Art.
Drittens werden Kompetenzen erworben, um die Modellierung der Forschungsdaten und der Forschungsprobleme auch formalisieren, d.h. technisch umsetzen zu können. Dazu gehört unter anderem auch die Fähigkeit, selbst Softwaremodule programmieren oder die Architektur für technische Lösungen entwickeln zu können.
Viertens sollen Absolventen in der Lage sein, auf der Basis von Forschungsfragen und ihrer Operationalisierung Analysen durchzuführen, Ergebnisse zu produzieren und zu medialen Repräsentations- und Präsentationsformen aufzubereiten. Unter Operationalisierung versteht man die Übersetzung von Forschungsfragen unter Berücksichtung der verfügbaren Informationen in durchführbare Analyseprozesse. Dabei werden geisteswissenschaftliche Thesen überprüfbar und führen zu Antworten. Zu diesem Bereich gehört auch die Erarbeitung von digitalen Publikationen bis hin zu komplexen Webanwendungen, die Ausgangsdaten und Ergebnisdaten zugänglich machen. Konkret umfassen die Lehrmodule z.B. Basiskenntnisse der Informatik, fachspezifische Methoden, Datenformate, Beschreibungsstandards, Webtechnologien, Datenbanken, Programmiersprachen und Visualisierung.
Informatiker gibt es viele. Geisteswissenschaftler gibt es noch mehr. Menschen mit einer doppelten Qualifikation sind dagegen immer noch selten. Grundsätzlich stehen digitalen Geisteswissenschaftlern die gleichen Berufsfelder offen, wie allen anderen Geisteswissenschaftlern auch – allerdings unterscheiden sie sich durch zusätzliche Qualifikationen im methodischen und technischen Bereich und durch ihre zukunftsorientierte Form der geisteswissenschaftlichen Kompetenz vom Gros der Bewerber. Absolventen der Digital Humanities sind überall da gefragt, wo Bewerber ein fundiertes technologisches Wissen mit Kompetenzen verbinden sollen, die typischerweise auch in den Geisteswissenschaften gestärkt werden. Dazu können analytische Fähigkeiten ebenso gehören, wie eine breite kulturelle Bildung, der kritische Umgang mit textuellen und bildlichen Ressourcen, die Aufbereitung und Vermittlung von Wissen oder sprachliche Gewandheit. Spätestens mit einem MA bzw. einer Promotion zielt die Ausbildung auch auf eine akademische Laufbahn. Wie in vielen anderen Geisteswissenschaftlichen Studiengängen, finden viele Absolventen von Bachelor- und Masterstudiengängen der Digital Humanities Beschäftigung in Sektoren des Bildungswesens (Schule, Hochschule, Erwachsenenbildung) oder der Medien (Verlage, Radio, Fernsehen, Online-Medien). Zu den Bereichen, in denen Digital Humanities-Kompetenzen heute einen erheblichen Startvorteil bedeuten, gehört der Sektor der mit dem kulturellen Erbe befassten Institutionen und Einrichtungen (Bibliotheken, Archive, Museen), der aufgrund der Digitalisierungswelle nach Spezialisten in diesem Bereich verlangt. Schließlich machen heute viele digitale Geisteswissenschaftler in allen Bereichen der Wirtschaft und Industrie Karriere. Dabei stellen sich dann texttechnologische Probleme oder Herausforderungen im Bereich der maschinellen Sprachverarbeitung, des Informationsmanagements oder der Softwareentwicklung.
(Patrick Sahle; Texte aus der Broschüre ‚Digitale Geisteswissenschaften‘)
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